Liebe Leserin, lieber Leser,
vor ziemlich genau 10 Jahren habe ich die Diagnose Lipödem erhalten – das ist ungefähr dieselbe Zeitspanne, wie ich verheiratet bin. Wow. Mittlerweile habe ich einen guten Weg für mich gefunden, damit umzugehen und mein Leben bewusst und selbstbestimmt zu gestalten. Lies selbst wie ich zur Diagnose kam und was die erste Zeit danach mit mir gemacht hat.
2012 – es ist spät in der Nacht, und ich zappe durch die Programme. Akte 2012 läuft gerade. Nicht unbedingt das, was ich mir unter anspruchsvollem Fernsehen vorstelle, aber ich bleibe trotzdem hängen. Plötzlich sehe ich Frauen auf dem Bildschirm, die mir auffallend bekannt vorkommen. Sie sehen aus wie ich. Frauen mit Lipödem, sagt der Bericht. Lipödem? Noch nie gehört. Der Gedanke zieht schnell vorbei, aber das Bild dieser Frauen bleibt haften. Sie ähneln mir in einer Weise, die ich bis dahin nie bewusst wahrgenommen habe.
Zu dem Zeitpunkt war ich 22 Jahre jung und konnte die Bedeutung dieser Entdeckung noch nicht ganz erfassen. Aber irgendwie wusste ich schon, dass das, was ich gerade gesehen hatte, Antworten auf Fragen aus meiner Jugend liefern könnte. Fragen, die ich nie wirklich gestellt hatte, weil ich nicht wusste, wonach ich suchen sollte.
Jahre später sollte sich herausstellen, dass dieses kurze Fernsehsegment nicht nur ein Zufall war, sondern ein erster Hinweis auf eine Diagnose, die mir so vieles erklären würde. Aber zu diesem Zeitpunkt legte ich den Gedanken beiseite – noch nicht bereit, mich dem zu stellen, was ich vielleicht längst ahnte.
2014 ziehe ich schließlich mit meinem zukünftigen Mann zusammen, und das Thema Lipödem rückt immer mehr in den Vordergrund. Viele Fragen tauchen auf, und vieles wird klarer. Zu dieser Zeit nehme ich noch die Pille und plötzlich sehe ich eine Reportage über Frauen, die daran gestorben oder schwer erkrankt sind. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, richtig zu strugglen. Was, wenn ich tatsächlich Lipödem habe und gleichzeitig ein erhöhtes Thromboserisiko durch die Pille?
Ich stehe kurz vor dem Abschluss meiner Ausbildung und bin auf einer Klassenfahrt in Köln – körperlich und emotional ausgelaugt. Nach meiner Rückkehr fällt die Entscheidung: Mein Mann und ich heiraten im Juni, Kinder sind zu diesem Zeitpunkt keine Option, also übernimmt mein Mann das Thema Verhütung.
Ich befreie mich von der Pille. Über die Details berichte ich gerne ein anderes Mal. 😉
Wir wechseln auch den Hausarzt, und bei einem Besuch entdecke ich in im Wartezimmer meiner neuen Ärztin eine Broschüre, natürlich über das Thema Lipödem. Da ist es wieder. Ich fasse mir ein Herz und frage sie, wie sie mir helfen kann und an wen ich mich wenden sollte. Sie empfiehlt mir den Besuch bei einem Phlebologen. Phlebo… was? Das ist ein Venenarzt. Alles klar. Ich suche mir einen aus und vereinbare einen Termin. Jetzt wird die Angst real.
Der Tag meines Arztbesuchs beim Phlebologen rückt immer näher. Ich muss mich richtig aufraffen, überhaupt dorthin zu gehen. Doch schon beim Betreten der Praxis spüre ich großes Unbehagen. Die Arzthelferin ist unfreundlich und lässt mich sofort an meiner Entscheidung zweifeln. Was tue ich mir hier eigentlich an?
Dann der Arzt: ein älterer, weißhaariger Mann. Er schaut mich an und stellt die Frage, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt: „Meinen Sie das wirklich ernst? Man kann ja schnell mal etwas behaupten.“ Ich bin fassungslos. Mit meinen 24 Jahren werde ich anscheinend nicht ernst genommen, nur weil ich jung bin.
Aber dieses Mal lerne ich eine wichtige Lektion: Ich stehe für mich ein, trete selbstbewusst auf und fordere meine Diagnose. Und plötzlich werde ich ernst genommen. Nach einigen Untersuchungen folgt endlich die Bestätigung – ich habe Lipödem.
Nach der Diagnose fühle ich mich innerlich gespalten. Einerseits bin ich erleichtert – endlich habe ich eine Antwort, die mir so vieles erklärt. Andererseits bin ich völlig erschöpft und überwältigt. Plötzlich ist es real und diese Realität trifft mich mit voller Wucht. Ich falle in ein tiefes Loch, weine viel und stelle mir immer wieder dieselbe Frage: Warum ich? Warum wurde mir diese Herausforderung für ein ganzes Leben auferlegt? Ein Leben voller Kompressionskleidung, regelmäßiger Lymphdrainagen und ständiger Achtsamkeit in Bezug auf meine Ernährung und Lebensweise.
Damals konnte ich nicht ahnen, wie sich mein Weg entwickeln würde. Alles, was ich sah, war das riesige, einschüchternde Ganze, das vor mir lag.
Es dauert fast ein weiteres Jahr, bis ich anfange, mich mit der Diagnose einigermaßen anzufreunden. Doch mein Körper scheint in der Zwischenzeit völlig verrückt zu spielen – plötzlich kommen auch noch Schilddrüsenprobleme hinzu und ich bin oft am Ende meiner Kräfte. Trotz allem spüre ich immer deutlicher, dass dies erst der Anfang von etwas Größerem ist.
Rückblickend wird für mich eine mögliche Ursache für mein Lipödem immer klarer: Mit der Einnahme der Pille habe ich damals den Auslöser gegeben – zumindest weiß ich heute, dass das Lipödem in vielen Fällen mit den zum Teil krassen Veränderungen im Hormonhaushalt von betroffenen Frauen zusammenhängt und dass eine kleine Hormonbombe, wie die Pille, durchaus zusätzlichen Schaden anrichten kann. In meiner Familie, insbesondere auf der väterlichen Seite, gibt es eine Veranlagung dafür, aber die Pille hat für mein Empfinden auch dazu beigetragen. Schon mit 16 Jahren begann also mein Kampf. Ich änderte meine Ernährung, fing an zu joggen – und das exzessiv. Ich lief sogar, wenn ich krank war, aus Angst, weiter zuzunehmen.
Heute erkenne ich, dass ich damals in eine Sportsucht geriet, getrieben von der Unsicherheit meinen Körper betreffend. All das erklärt sich mir aber erst nach der Diagnose. Plötzlich fügt sich das Bild zusammen und ich beginne, das Ausmaß dieser Krankheit zu verstehen.
2017 wage ich einen großen Schritt: Ich reise für acht Monate nach Neuseeland und hänge noch einen weiteren Monat in Australien dran. Mit dabei ist meine Kompressionsversorgung, aber ohne die gewohnte Lymphdrainage. Ich bin ständig unterwegs, manchmal tagelang ohne Kompressionsstrümpfe. Wurde mein Zustand schlechter? Zu meiner Überraschung – nein. Ich lebe vegetarisch, bewege mich täglich viel, und meine Beine fühlen sich erstaunlich gut an.
Doch als Neuseeland endet, heißt es auch: Zurück zur Routine – Lymphdrainage und möglichst schnell neue Kompressionsstrumpfhosen. Damals habe ich die Versorgung bereits konsequenter getragen, aber eben nicht immer perfekt.
Wie geht es also weiter bis heute? Es ist ein ständiges Auf und Ab. Mal geht es mir besser, mal habe ich mit einem neuen Schub zu kämpfen. Glücklicherweise bin ich frei von Schmerzen, doch der Umfang verschlechtert sich teilweise erheblich, egal, was ich tue. Nach meiner langen Reise dauert es eine Weile, bis ich wieder im Alltag und in meiner Routine ankomme. Ich beginne, wieder Fleisch zu essen, doch nach reiflicher Überlegung bin ich vor einem Jahr Vegetarierin geworden und bis heute dabei geblieben – was auch die vollkommen richtige Entscheidung war, denn seitdem geht es mir richtig gut. Sogar das Mehr an Umfang, welches mit der schlechteren Ernährung während und nach meiner Reise einhergegangen war, konnte ich mit der vegetarischen, gesunden Ernährung sowie ein gut funktionierendes Selbstmanagement in den Griff bekommen.
Trotz der Herausforderungen finde ich Freude an neuen Aktivitäten. Ich fange mit Stepptanz an und gehe weiterhin viel wandern, denn das war mir mein ganzes Leben lang wichtig. Und weißt du, was ich früh erkannt habe? Meine Beine sind das Stärkste an mir, und dafür mag ich sie.
Meine Reise mit Lipödem begann vor über einem Jahrzehnt, als ich zum ersten Mal auf diese Diagnose stieß – erst beiläufig und ohne zu wissen, was es bedeutet. Die Diagnose selbst kam einige Jahre später und war mit vielen emotionalen Höhen und Tiefen verbunden. Ich habe Momente der Verzweiflung durchlebt, in denen ich mit neuen Gesundheitsproblemen konfrontiert war und mich fragen musste, wie ich diesen Weg gehen sollte.
Mit der Zeit lernte ich, meine Situation anzunehmen und meinen eigenen Weg zu finden. Reisen nach Neuseeland und Australien zeigten mir, wie gut es meinem Körper durch Bewegung und gesunde Ernährung gehen kann. Auch wenn es im Alltag nicht immer einfach ist und ich Rückschläge erfahre, finde ich Kraft in meinem Leben voller Bewegung und Aktivität – sei es durch Wandern oder Stepptanz, den ich für mich entdeckt habe. Seit einem Jahr lebe ich vegetarisch und tue aktiv etwas für mein Wohlbefinden.
Heute weiß ich: Meine Beine sind stark, und sie tragen mich verlässlich durch alle Herausforderungen. Auf meinem Weg habe ich Selbstakzeptanz gefunden und gelernt, auch die schwierigen Seiten anzunehmen.
Ich freu mich schon, euch mehr zu berichten. 🤗
Mit ganz viel Liebe,
Julia
Beitrag teilen
© 2025 deinestarkeseite.de