Ich erhielt die Diagnose Lipödem, da war ich 28 Jahre alt. Alle Bäche brachen. Und nun?
Ich sagte mir: „Du hast also eine Krankheit, die dich hässlich und fett macht.“ Das war tatsächlich einer meiner ersten klaren Gedanken. Ich konnte mein Spiegelbild noch nie ertragen. Jetzt erst recht hasste ich meinen Körper.
„Wieso ich?“ Das fragte ich mich. Mit meinem Rezept für die Kompressionsversorgung und gesenktem Kopf verließ ich die Praxis. Die Schmerzen hatten also einen Namen, man konnte sie mir aber nicht nehmen. Stattdessen hallten in mir die Worte des Arztes wieder: „Sie müssen sich nun damit abfinden und leben, seien Sie froh, dass Sie so früh zu mir gekommen sind. Abnehmen können Sie nicht viel.“
So früh? Die Schmerzen fingen doch schon mit 13 Jahren an, wieso hatte da niemand den Gedanken an ein Lipödem gehabt, wieso sah mein Kinderarzt dies nicht? Stattdessen war meine Jugend und die Kindheit von Mobbing, Essstörungen und Ausgrenzung geprägt. Wieso hat man mich solange nicht ernst genommen und nur gesagt, es sei einfach nur die Pubertät. Wieso hat mein Gynäkologe nichts gesagt? Wieso? Ich kann es mir nicht erklären, stattdessen sitze ich auf einer Bank mit Tränen, die mir über das Gesicht laufen.
Ich ging nach Hause. Traurig, wütend und verzweifelt.
Hatte ich selbst schuld? Habe ich mich womöglich selbst krank gemacht?
Nun ja, es muss irgendwie weitergehen, dass Kind war in den Brunnen gefallen. Mit meinem Rezept ging ich in ein Sanitätshaus. Nichtsahnend, was auf mich zukommt.
Ich wurde von einer Dame empfangen; ihr gab ich das Rezept und sie zeigte mir, in welche Kabine ich gehen soll. Ich sollte mich untenrum schonmal ausziehen. Wie bitte? Ich wollte doch nur das Rezept einlösen. Dass ich dafür vermessen werden muss, war mir vorher nicht klar. Mich ausziehen? Vor einer mir fremden Frau?
„Niemals“, dachte ich und wollte gerade wieder rausstürmen, da kam sie mit dem Maßband um den Hals, einer „Farbpalette“ und Stoffen in den Händen zu mir. Sie erklärte mir nun, dass wir zusammen schauen würden, welcher Hersteller für mich geeignet ist und welche Farbe ich nehmen möchte. Farbe? Never. Ich muss nicht auch noch auffallen, war mein Gedanke. Nun zog ich mich aber doch aus und die Dame fing an zu messen. Erst unten an den Füßen, aber je höher sie kam, desto unwohler fühlte ich mich.
… Es kann Dich runterziehen, es kann Dich stärker machen, es kann Dich Vereinsamen oder Dir neue Menschen in Deinem Leben schenken. Es kann Dich beeinflussen oder Dich in Deinem Leben einschränken. Es kann Dich haben oder Du hast es. Lass das Lipödem nicht Dein Leben beeinflussen.
Ich erhielt den Anruf, dass meine Kompression da wäre. Ich könnte sie anprobieren kommen. Im Sanitätshaus angekommen, kam mir diesmal ein Herr entgegen. Er führte mich in die Kabine und erklärte mir, dass die Dame erkrankt sei und er meinen Auftrag übernehmen würde. Es war mir sehr unangenehm. Dies bemerkte er und ging gekonnt damit um. Er nahm die Kompression und erklärte mir alle Zusätze noch einmal.
Er sagte mir: „Die Kompression muss nicht Dein Feind sein, sehe sie als Deine Freundin, Deine bessere Hälfte, die Dich unterstützt und Dir Halt gibt.“ Mit einem freundlichen und warmen Lächeln schaute er mich an und ich hatte das Gefühl von einer leichten Sicherheit. Ich zog meine Jeans aus und mit seiner Hilfe die Kompression an.
„Niemals schaffe ich das alleine“, war mein Gedanke. Die Kompression saß an mir wie eine zweite Haut. Es war eng, sehr eng, aber angenehm und ja, sie gab mir Halt. Ich schaute in den Spiegel und konnte den Blick nicht abwenden. Die Beine und der Bauch sahen relativ gut aus. Sie sahen schlanker aus und ich merkte ein Gefühl von Glück.
Mit genau diesem Gefühl ging ich in die Stadt, dann einkaufen und anschließend nach Hause. Meinem Mann gefiel, was er sah. Er sah auch, dass ich mich anders, viel besser bewegen konnte. Ich schaute bei Facebook nach Gruppen für Betroffene. Ich las leise mit und erkannte mich immer mehr in den Aussagen der jeweils anderen Personen. Mir viel auf, dass einige genau die Figur hatten wie ich und ihre Kompression öffentlich trugen. Sie versteckten sich nicht. Das gefiel mir sehr.
Ich kam sehr schnell mit einigen der Frauen in Kontakt und Freundschaften bauten sich auf. Freundschaften, Freunde haben wie lange hatte ich keine mehr, weil ich mich zurück gezogen hatte. Meine neuen Freundinnen machten mir Mut. Mut zur Veränderung.
Veränderung? Da muss noch mehr gehen, dachte ich bei mir. Ich fing mit meiner Ernährungsberatung an, einen Plan zu erarbeiten. Und mit diesem nahm ich ab. Mein Selbstwertgefühl und mein Selbstbewusstsein wuchsen von Tag zu Tag.
Nach einer Abnahme von mehr als 20kg vermehrten sich meine Schmerzen plötzlich. Ich konnte teilweise kaum noch laufen, konnte nicht mehr schlafen. Aufgrund der starken Schmerzen kam ich in eine Schmerzklinik. Dort erhielt ich Tilidin als Bedarfsmedikation und Morphium als Dauerverordnung. Zurück zuhause angekommen, hatte ich Momente, in denen ich mich nicht alleine waschen konnte, mich nicht alleine von der Toilette erheben konnte. Mein Mann half mir. Ich bekam einen Rollator. Ein Schlag ins Gesicht für mich. Aber ich war stärker geworden. Ich nannte den Rollator den „rasenden Robert“.
In Düsseldorf sollte eine Menschenkette für und von Lipödem-Betroffenen stattfinden. Mit meinem Mann fuhr ich nach Düsseldorf. Dort angekommen, sah ich einfach nur viele starke Frauen. Darunter ganz viele meiner Facebook-Freunde. Zum ersten Mal sah ich sie live vor mir und es fühlte sich an wie Familie. Und ich möchte keinen von ihnen missen. Das Lipödem hat mich stärker, reicher und klüger gemacht.
Ich habe das Lipödem, nicht das Lipödem mich!
Alles Liebe,
Eure Ramona
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3 Responses
Hallo zusammen,
ich heiße Ina, bin 36 Jahre jung und komme aus Mülheim an der Ruhr. Zurzeit leide ich sehr unter dem Lipödem Stadium 2. Bislang trainierte ich immer 6 mal die Woche, mehrere Stunden (Krafttraining und Ausdauertaining), ging sehr regelmäßig saunieren und täglich baden und achtete immer auf meine Ernährung. Letztes Jahr bemerkte ich die ersten Schwächen in den Beinen und Wasseransammlung. Mein Körper baute keine Muskeln mehr auf, mein Körper formte sich nicht mehr – er verformte sich eher ( Bizeps und Trizeps sind gar nicht mehr zu erkennen!). Lipödem 1 hieß es. Aufgrund einiger Infekte letztes Jahr, Corona Infektionen (kein Sport möglich) ernährte ich mich sehr ungesund. Rasant ging es mit höllischen Schmerzen auf stadium 2 zu. Nun trage ich meine Kompressionsstrumphose mit Liebe an mir – nach dem ausziehen sind die Schmerzen in den unteren Extremitäten nicht erträglich. Die Finder stets geschwollen und schlafen ständig ein. Ich fahre Tgl, eine Sekunde Fahrrad. gehe eine Stunde mit dem Hund mind. Spazieren und bin beim drums alive und Zumba. Ich achte auf das kaloriendefizit! Ich bin traurig zurzeit nicht an den geliebtem Extremsport um Bootcamp und Boxen zu denken. Ich bin einfach müde, schlapp mir schlechter Kondition und schmerzen. Ich trage aber seit Jahren den Kampfgeist mit mir rum. Also wecke ich auch immer wieder diesen. „Manche Krankheit hat was Gutes“, ich habe auch aufgrund des lipödems ganz ganz liebe Menschen bislang Kennenlernen dürfen. 💖 Und eins ist mir klar, nur starke Menschen bekommen Herausforderungen und Päckchen zu tragen !!!!! Herzliche Grüße von Ina aus Mülheim an der Ruhr
Hallo Ramona,
ich danke Dir sehr, dass Du deine Geschichte erzählst und es hörte sich wie meine eigene an.
Bleib STARK und KÄMPFERISCH. ☺️ Das Leben ist schön trotz allem…. 😊
Liebe Grüße
Andrea
Hallo, ein cooler Beitrag! Danke 🙂