Hallo ihr Lieben,
ich habe Lip- und Lymphödem im Stadium 2. Die beiden versuchen regelmäßig, mich zu ärgern, was mittlerweile nur noch bedingt klappt. Ab und zu sind sie mal zickig und ich muss sie mühselig ruhig stellen. In letzter Zeit aber nicht mehr so oft, man sieht, sie lernen.. denn.. die Erkrankung hat mich gewählt und muss mit mir leben.
„Jaaa, sehr gut, und jetzt mal genau in die Kamera schauen.. jaa, toller Blick, ich liebe deinen Ausdruck! Genauso nochmal! Jaaa, mega!“ Die Kamera klickt, eine tolle Aufnahme nach der anderen entsteht gerade in Serie, während ich mich bewege, Blick in die Kamera, Blick zur Seite, Augen verträumt zu, Augen wieder auf, die Hände kommen mit ins Spiel, Bauch rein, Brust raus, Körperspannung- und ich strahle. Ich habe gerade ein Fotoshooting.
Begeistert prüfe ich auf der vom Fotografen gereichten Kamera die Fotos auf dem Display. Ich bin hin und weg.
Umziehen, nächstes Set, weiter geht’s. Wir lachen viel, haben viel Spaß, reißen Witze und ich strahle einfach nur, äußerlich wie innerlich.
Mittlerweile strahle ich. Das war nicht immer so. In 2018 habe ich angefangen, hobbymäßig zu modeln, wozu ich durch eine Freundin kam. Es hat mir von Anfang an Riesenspaß gemacht. Nein, ich erhalte zumeist kein Geld dafür, zahle aber auch keins. Hobby, in welches beide Seiten Zeit, Material, Kleidung, Ausrüstung investieren.
Ich habe meinem Hobby eine Menge zu verdanken. Zum einen meine Diagnose Lip-Lymphödem, da ich durch Fotos erst auf meine ordentliche Cellulite aufmerksam wurde und mich damit befasste. Zum anderen.. einen nicht unerheblichen Teil des Menschen, der ich heute bin- mein Selbstbewusstsein.
Früher schon, zu Schulzeiten, war ich immer ein sehr schüchternes Kind, sehr verschlossen und habe mich nie getraut, mich zu wehren- Mobbing war leider Alltag an unserer Schule. Meine Schüchternheit hat mir sogar schlechtere Noten eingebracht. Die Lehrer sagten immer zu meinen Eltern „Ihre Tochter ist sehr klug und intelligent. Wenn sie nur mehr im Unterricht aufzeigen und mehr sagen würde, mehr mündliche Beteiligung- sie würde überall mindestens eine Note besser sein.. in schriftlichen Arbeiten ist sie so gut“. Ich hab’s nie auf die Kette gekriegt, mehr den Mund aufzumachen.
Ich war früher schlank, erst mit 18, 19, 20 nahm ich immer mehr zu- Mit Beginn meiner ersten Ausbildung, welche ich abbrach- ein Griff ins Klo, falscher Job.
Ausbildung weg, Gewicht drauf.
Ich kam lange nicht damit klar, keine Größe 36 mehr zu tragen, nicht mehr für meine tolle Figur bewundert zu werden, stattdessen zu hören, dass ich nun eben richtig zur Frau werde und eben etwas „rollig“ bin, wie meine Mama sagt.
In meiner zweiten Ausbildung, welche ich gut abschloss, trug ich dann bis heute eine 40/42, je nach Laden untenrum eine 44.
Ich trug nicht gern Badekleidung, Hosen mussten im Sommer mindestens Caprilänge haben, wegen meiner dicken Oberschenkel. Auf Fotos zog ich den Bauch ein, versuchte immer, schlank und attraktiv auszusehen, besonders wenn ich feiern ging mit meiner schlanken Freundin. Trotz meiner Beziehung genoss ich natürlich ab und an gern mal männliche Aufmerksamkeit und wenn man mir ein Getränk spendierte (mehr natürlich nie ;)), war es doch irgendwo Bestätigung. Abzunehmen schaffte ich nie.. hielt eine Diät aber auch nie wirklich durch. Sport machte ich damals kaum.
Im Grunde genommen war ich unglücklich mit mir, verglich mich mit schlanken Freundinnen und wollte genauso aussehen- straff, attraktiv, sexy.
Ich und Model sein? Völlig absurde Idee, mich fotografiert doch niemand.. meine damalige Freundin hatte damit angefangen, klar, bei Ihrem Traumkörper. Aber ich doch nicht… und doch, der Reiz war da. Ich besaß einige hübsche Fotos und legte mir damit eine erste, kostenlose Sedcard an.
Was dann geschah, vermochte ich damals kaum zu glauben. Ich wurde mit Anfragen nahezu überschüttet, wie ein Star… was ist da los..? Anscheinend wollten viele ein „Model“ mit Kurven shooten.
Somit kam ich tatsächlich schnell an erste Shootings, lernte nette Fotografen kennen, hatte viel Spaß- und blieb dabei. Durch jedes Shooting, durch die Bilder, auf denen ich mich selbst in einem ganz anderen Licht sah, gewonn ich an Selbstvertrauen. Mehr und mehr. Ich wollte mehr Shootings, brannte dafür und brenne bis heute ;)- ich liebte es. Klick, Klick.. die Kamera, mein liebster Freizeitfreund 😉
Meine Cellulite sah ich recht oft auf Bildern, welche unretuschiert waren. Dann im März der Knaller in Tüten- Lip und Lymphödem Stadium 2, Klatsch ins Gesicht.
Wo ich mich doch gerade richtig selbstbewusst fühlte. Meine Kurven lieben gelernt hatte. Mich sexy fühlte.
Dazu kam dann die Kompression, diese wahnsinnig engen Strumpfhosen, mit denen ich mich anfänglich extrem quälte und sie so manches Mal achtlos im Schrank ließ- ich lehnte sie richtig ab.
Wie sollte ich das mit dem Modeln vereinbaren? Mit meinem liebgewonnenen, tollen Hobby aber aufzuhören kam mir nie als Option vor. Niemals- ich will Modeln, bis ich alt und grau bin und dann bin ich ein cooles Bestager Model 🙂
Somit muss meine Kompri eben mit zu Shootings. Im Text meiner Sedcard und auf meiner Instagram Modelseite gebe ich selbstbewusst meine Erkrankung an. Mittlerweile. Es hat lange gedauert, bis ich das konnte. Vor Shootings schlüpfe ich aus der Kompri, lass die Abdrücke weg gehen und nach Shootings ziehe ich sie wieder an. Manchmal gehe ich alternativ mit meiner Lymph-O-Fit Leggings zu einem Shooting und die Kompri kommt entweder im Gepäck mit oder bleibt daheim. Mit vertrauten Fotografen rede ich offen darüber, erkläre viel- und bekomme viel Verständnis und Interesse entgegen gebracht, was mich sehr freut.
Ausziehen muss ich sie rechtzeitig, um Abdrücke zu vermeiden, welche der Fotograf sonst mühsam retuschieren müsste. Ich habe das Glück, meine Beine beim shooten wenig zu spüren, da ich in Bewegung bin.
Posen im Knien einzunehmen, geht nicht ganz so gut, da mir dabei schnell die Beine einschlafen oder unangenehm wehtun. Ich kann knien, aber nicht sehr lange. Aber was soll’s.. dann pose ich halt anders, wenn etwas nicht geht.
Aber Aufhören? Niemals. dazu liebe ich das Modeln viel zu sehr.
Ja, ihr lest richtig- Aktshootings. Mit vertrauten Fotografen shoote ich unheimlich gern Dessous und auch ästhetischen Akt- meist sieht man dabei rein gar nichts, da verdeckt. Ich habe allerdings auch schon richtig klassischen Akt geshootet, sowohl im Studio als auch draußen an möglichst ungestörten Locations.
Ich mache das sehr gern.. denn es zeigt mich. Mich, pur, so wie ich bin, mit all meinen Kurven, mit meinem herrlich perfekten unperfekten Körper. Es zeigt, wie ich auch sein kann- sexy, sinnlich, weiblich. Gerade diese Art von Shooting gibt Selbstbewusstsein und half mir bislang, meinen Körper zu akzeptieren und zu lieben.
Von anderen höre ich KOmmentare wie: „du bist ja mutig“, „Respekt“, „mutig, dass du dich so zeigst“.. Ich mag solche Kommentare nicht so. Da es im Grunde genommen aussagt, dass ich nicht normal aussehe, nicht schön, nicht modelmäßig. Wenn es auch natürlich nicht so gemeint ist von vielen, das ist mir klar. Ich bin nicht mutig. Ich mache das was ich liebe. Dafür braucht es keinen Mut.
Aber Akt shooten mit Lipödem? Aber hallo, sowas von, ja 🙂 Jetzt erst Recht. Natürlich sieht man das Lipödem. Man sieht, was es aus meinen Beinen gemacht hat. Aber ich verstecke mich nicht. Warum auch? Meine Beine gehören zu mir. Ich mag meine Beine , vollkommen so, wie sie sind.
Meine Beine tragen mich täglich durchs Leben, überall hin, wo ich hinwill. Lassen mich shooten, bewegen, Sport machen. Ich habe Beine. Es gibt Menschen, die keine Beine haben oder sehr kranke Beine. Ich habe Beine. Ich bin dankbar, für meinen Körper und meine Beine- sie sind ein Teil von mir. Auch das Lipödem hat mich mit zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Wie könnte ich meine Beine hassen? Wofür?
Angefangen habe ich ganz normal bekleidet, im Bereich Portrait- Shootings in Dessous kamen erst später- und Aktshootings viiieeel später. Heute bin ich sehr vielseitig und shoote fast alles. Gern kreativ und aufwendig. Gern intensive Portraits. Gern romantisch-verträumt-mädchenhaft. Aber auch immer noch gern sinnlich weiblich, manchmal gern frech. Ästhetisch muss es sein- immer- unbedingt- ganz wichtig.
Ja, Ästhetik ist auch mit Lipödem möglich.
Was ich mittlerweile auch gerne mache: Bikinis tragen.
Lange Zeit ein No-Go, ich habe Badeanzüge oder Tankinis getragen und bis zum Wasser ein Handtuch um die Hüfte, um meinen Bauch und meine Schenkel und den Cellulite Hintern zu verstecken.
Durch mein Hobby sehe ich mich selbst mittlerweile komplett anders als noch vor 2,3 Jahren. Ich verstecke mich nicht mehr. Weder meinen Bauch noch meine von Madame Lip gezeichneten Beine. Wie das kam, dass ich wieder zu Bikinis griff, weiß ich gar nicht genau. Irgendwann kaufte ich einfach einen und trug ihn dann auch. An der Seite meiner schlanken Freundin, wir beide selbstbewusst im Bikini, laufen wir über eine Strandpromenade auf Mallorca. Früher undenkbar.
Im Urlaub mit meinem Freund laufe ich den ganzen Tag am Strand im Bikini rum und genieße es. Heute vollkommen normal für mich, was andere denken könnten, interessiert mich null. Im letzten Urlaub bat ich meinen Freund, mich zu fotografieren. Ich bat ihn um Bikinifotos. Es fühlte sich mega an, wieder strahlte ich.
Das hatte mein Hobby aus mir gemacht. Trotz oder gerade mit Lipödem. Und das könnt ihr auch.
Und heute? Modele ich immer noch, regelmäßig ca. 4 Shootings pro Monat, zu Kurzarbeitszeiten auch mehr, nach 3 Jahren habe ich somit über 150 Shootings auf dem Kerbholz. Ich shoote immer noch meist hobbymäßig, habe aber mittlerweile ein Gewerbe angemeldet und durch Shootings auch schon gut nebenbei verdient.
Immer dabei meine Kompri als Begleiter.
Ich bin lange nicht mehr das schüchterne Mädchen von früher. Mein Hobby und das Lipödem haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich fühle mich stark, selbstbewusst, weiblich und schön.
Natürlich habe ich auch Absagen erhalten von Fotografen, die kein curvy shooten und sich nicht ran trauen an Kurven. Anfangs haben mich Absagen bitter enttäuscht, heute juckt es mich nicht. So ist das eben, Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Was soll’s.. denen entgeht eben ein tolles Model 😉
Nicht jeder Tag ist gleich und manchmal kommen die Zweifel wieder hoch. Ich kann sie aber mittlerweile relativ leicht besiegen.
Ich bin überzeugt, dass das jede Frau genauso kann wie ich. Ich kann einfach jedem nur empfehlen, mal ein Fotoshooting zu machen und das Gefühl eurer fertigen Bilder zu erleben, euch mit anderen Augen zu sehen.
Abnehmen? Diät? Nö. keine Lust. Ich esse gesund und normal, mache Sport, bewege mich. Purzeln dabei ein paar Pfunde, ist das gut, tun sie das nicht- auch gut. Ich mache keine gezielte Diät und esse leidenschaftlich gern das, auf was ich Lust habe. Fürs Modeln abnehmen? Nö. Ich liebe es, meine Kurven in Szene zu setzen und mich zu zeigen.
Alles Liebe,
Eure Sarah
Beitragsbild by @edgeofabyss
Bild zum Quote by Michael Rutta
Beitragsbilder von Gerhard Richardson, SAWE Fotografie, Dirk Krings, Sabrina Pesch Artwork
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3 Responses
RESPEKT ! Ich habe auch Lipödem/Lymphödem Stadium 2 und liebe mich mich , aber habe ich noch lange nicht so ein Selbstbewusstsein !
danke 🙂 ich bin sicher, dass du das schaffen kannst :))
Du siehst auf dem Bikini Foto relativ normalgewichtig aus. Also kein Grund dich zu verstecken. Du machst alles richtig. Super.